Sonntag, 4. Oktober 2015

Mein Sohn ist definitiv anders > mein persönliches Erwachen

Damals, vor bald 8 Jahren: Ein zierlicher Junge, hübsch und interessant. Aber er tickt irgendwie anders. Oder anders formuliert, er weckt in mir von Anfang an intuitiv das Gefühl, dass ich nicht nach Erziehungsschema 0815 mit ihm umgehen kann. Ein besonders sensibles Kind, war mein erster Gedanke. "Ein Kristallkind", wurde er von wildfremden Menschen genannt, die uns beobachtet haben. Das war, als mein Sohn etwa 2 Jahre alt war. Okay, sogar Außenstehende erkennen die Andersartigkeit. Ich habe gegoogelt, was der Ausdruck bedeutet. Diese spirituelle Bezeichnung schreckte mich auch keineswegs ab. In meinem Kopf festigt sich sogar der Gedanke, mein Sohn ist nicht nicht nur einfach anders, er ist etwas Spezielles. Etwas Besonderes.

Dann, da war er vier Jahre, habe ich zufällig und in anderem Zusammenhang vom Asperger Syndrom gehört. Ich erinnere mich nur zu gut an den Moment, als Google mir Verhaltens-Details präsentierte, die mir sehr vertraut vorkamen. Meine kleine Welt blieb für einige Momente stehen. Instinktiv pickte ich mir jede Information aus den Texten, die nicht auf meinen Sohn zutraf. Ein kleines, inneres Gerichtsverfahren um mir selbst zu beweisen, dass das alles bestimmt nicht auf uns zutrifft. Die Welt musste ja weiterdrehen.

Die nächsten Wochen waren eine Achterbahnfahrt. Das latente Wissen darüber, dass ich nicht einfach ein besonderes Kind hatte, sondern es autistisch und damit krank sein könnte, zerriss mich innerlich fast. 

Heute glaube ich, dass ich in dieser schwierigen Situation intuitiv das Richtige getan habe. Nämlich nichts. Keine Schulpsychiologie, keine psychiatrische Abklärungen, kein Austausch mit Selbsthilfegruppen. Ich habe einzig an mir selbst "gearbeitet". Diese unkontrollierbaren Emotionen und Unsicherheiten haben mich nämlich dermassen eingelullt, dass ich meinen eigenen Sohn nicht mehr unvoreingenommen ansehen konnte. Meine Sorgen waren allgegenwärtig und meine Angst vor dem, was die Zukunft bringen würde, dominierte mein Denken. Dazwischen massive Verdrängungsmuster - wegblenden und schönreden von Offensichtlichem. Das war kein Zustand. 

Daher dieser Entscheid: Es geht nicht um mein Kind, jetzt geht es erst einmal um mich und die Klärung meiner eigenen Gedanken. Das war für mich ganz entscheidend.

Aus meinen damaligen Gedanken, nachdem ich die sortiert hatte:

Mein Sohn bleibt der gleiche, wundervolle Mensch den er bisher war. Eine Diagnose ändert daran nichts.

Ich bin in der Lage, damit umzugehen. Denn sonst wäre er gar nicht erst zu mir gekommen. Ich habe - wie alle Mütter von Aspergern - genau das richtige Rüstzeug für den Umgang mit diesem Kind.

Asperger ist eine Form des Andersseins. Keine klassische Behinderung oder Krankheit, die es zu bemitleiden gilt. Vielmehr ist die Bezeichnung Asperger Syndrom eine Hilfe. Ich verstehe, was mein Sohn mitbringt, was nicht durch Erziehung verändert werden kann, durchaus aber durch den Umgang mit ihm optimiert wird. 

Es dauerte mehrere Monate, bis ich - im Austausch mit meinem Mann - diese innere Ruhe gefunden hatte. Bis ich an dem Punkt war, an dem es keine Rolle mehr spielte, ob er nun die Diagnose bekommt oder nicht. 

Bald darauf, kurz nach dem Start im öffentlichen Kindergarten, fand dann das erwartete Gespräch statt, in dem ich vorsichtig darauf vorbereitet werden sollte, mein Kind abklären zu lassen. Ich war ruhig, da vorbereitet und habe die Abklärungen in Angriff genommen. Step 1: Vorabklärung beim schulpsychologischen Dienst. Step 2: mehrere Termine in der Kinderpsychiatrie und bei wenige Sitzungen bei Fachexperten. Abklärung galt nur für frühkindlicher Autismus, nicht für Asperger Syndrom. Das könne erst etwas später diagnostiziert werden.

Heute, fünf Jahre später, stehen wir mit den Herausforderungen an ganz anderen Punkten als damals. Ich versuche, demnächst wieder mehr über die Einzelheiten zu schreiben.

Rückblickend war es wirklich von großer Bedeutung, zuerst meinen eigenen Frieden zu finden. Mein Gleichgewicht herzustellen.

Ich bin sehr froh, dass ich diese Andersartigkeit so früh erkannt habe. Das Wissen rund um das Asperger Spektrum hat mir im Umgang mit meinem Sohn entscheidend geholfen. Obschon ich erwähnen muss, ich habe nicht allzuviel Literatur gelesen. 

Es ist wie das Anlegen eines Gemüsegartens. Ich weiß, welche Bedürfnisse jede Pflanze hat, damit sie gedeiht. Aber wenn ich meinen Kopf damit Fülle, welche Käferarten alle meine Pflanzen zerstören könnten und was alles sonst für Unheil über mein Gärtchen hereinstürzen könnte, vergesse ich vor lauter Sorgen zu sehen, wie schön mein Garten wächst, welche Blüten blühen und wo sogar schon reife Früchte hängen. Ja, die Käfer kommen. Aber sie sind gar nicht so wild. 

Es geht mir nicht darum, die Situation schönzureden. Mein Asperger Junge ist durchaus ein Abenteuer. Ständig neue Herausforderungen. Aber auch neue Lösungen. Ich kenne kein Kind, das so lernfähig ist, sofern man den Zeitpunkt für die neue Info gut wählt und diese als Unterstützung und nicht als Tadel formuliert. ;-).

Und vieles, was einst unüberwindbar schien, ging einfacher als gedacht. Seit August ist er nun in der dritten Klasse der öffentlichen Schule. Genau wie alle anderen. Spezielle Unterstützungsmaßnahmen seien nicht nötig, es laufe gut, sagte man uns. Wir freuen uns, das zu hören. Und lehnen doch nicht zurück, es kommen im sozialen Bereich bereits neue Themen auf uns zu, ich spüre es :-). 

Hinweis: dieser Beitrag ist aufgrund einer Frage entstanden, die eine Leserin eingereicht hat. 

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