Samstag, 22. August 2015

Try and Error

"Es gibt Kinder, die gehen 19 Mal eine Rutschbahn hoch, fallen 19 Mal hinunter und beim 20. Mal, da klappt es. Andere Kinder schauen 19 Mal zu, gehen dann die Rutschbahn hoch und rutschen unbeschadet runter." Das hat mir vor 7 Jahren der Kinderarzt erklärt. Mein Sohn war immer schon der Beobachter. "Try and Error" war nie sein Ding. Dann schon eher "Not even Try".

Damals, als ich noch nichts von einem Asperger Syndrom wusste, habe ich diesem Charakterzug keine grössere Bedeutung geschenkt. Heute erst sehe ich den grösseren Zusammenhang dieses kindlichen Verhaltens im Lernprozess eines Asperger Autisten. Bewusst geworden ist mir das im Gespräch mit einem befreundeten erwachsenen Asperger. Er erkärte mir den Aufbau seiner sozialen Skills - ein jahrzehntelanger Prozess:

Jede neue sozialgeprägte Situation bedinge von einem Asperger eine Reaktion. Was für mich intuitiv klar ist, bedeutet für andere quasi ein Blindflug. Mein Freund zeigte mir auf, dass er sich in jeder Situation (zB. wenn man erkennt, man hat jemanden brüskiert) für eine Reaktion entscheiden muss und dann gilt es zu beobachten, ob man die Situation verschlimmert oder verbessert hat. Zwei, drei, fünf oder zehn Mal war es vielleicht die falsche Reaktion. Das kommt dann in die Sparte "Error". Und dann, vielleicht, eventuell, mit Glück wählt man eine Reaktion, die tendenziell die Situation verbessert. Um keinen weiteren Schaden anrichten zu müssen, speichert man diese Reaktion zusammen mit der Ausgangslage ab, für spätere, soziale Verwendung.

Mein Freund hat das ziemlich emotionslos erzählt. Als normaler Weg, wie man sich in der Gesellschaft zurechtfinden kann, bei den Menschen freundlich ankommt. Wahnsinn. So viele Begegnungen, die durch den "Error" im Frust durch Missverständnis geendet haben. Und schlussendlich, nach all der Mühe, wirft man dem Asperger unsensibles Verhalten vor, weil er die erst Beste Reaktion als Standard definiert hat, obwohl es vielleicht noch andere, deutlich bessere Reaktionen gegeben hätte.

Ich will gar nicht wissen, wie viele Asperger nach diesem oder einem ähnlichen Prinzip ihre sozialen Fähigkeiten erlernen mussten. Furchtbar. Und so extrem absurd, denn gerade Asperger Persönlichkeiten lernen meiner Erfahrung nach extrem schnell. Wenn sie denn mal zur richtigen Information gelangen. Ich stelle mir vor, dass ich zur Begrüssung dem ersten die Ohren kraule, dem zweiten ins Gesicht schlage, den dritten ignoriere, den vierten umarme, dem fünften die Schultern massiere und all das nur, weil mir keiner gesagt hat, dass ich die Hand schütteln soll. Sicher, das ist jetzt etwas überzeichnet, ich neige nun mal zu Emotionalität in solchen Themen.

Geführt hat all das dazu, dass ich mit meinem Sohn eine Vereinbarung getroffen habe. Er ist zuständig fürs Sammeln von Situationen, ich für deren Interpretation. Das läuft jetzt zum Beispiel so: Mein Sohn kommt nach Hause und berichtet mir von einer Situation, in der er nicht wusste, wie er reagieren sollte: Drei Mädchen, etwa zwei Jahre älter als er (er 9, die Mädchen 11 oder 12 Jahre) haben ihn auf der Strasse angesprochen. Er hätte sich - wie er es so präzise ausdrücken kann - eine Lampe überhalb der Mädchen gewünscht. Rot bedeutet Gefahr, die wollen hänseln. Orange bedeutet, es ist eine neutrale Frage, kein Grund zu Misstrauen. Grün bedeutet, die finden mich nett, ich kann ganz mich selbst sein. Leider gibt es keine solche Lampen. Aber er macht es dennoch clever: Er merkt sich alle Einzelheiten und gibt sich Mühe, auch weniger offensichtliche Zeichen wahrzunehmen.

In diesem Fall bringt er mir diese Situation mit, in allen Details und stellt die Frage: Wie muss ich in diesem Fall reagieren? Wir analysieren gemeinsam die Situation. Oft ist es klar, was zu tun ist. Hierbei fand ich das selber durchaus komplex. Schlussendlich habe ich ihm zu einer Gegenfrage geraten. Freundlich, ruhig bleiben und fragen: "Wieso sagt ihr das?" Das schiebt den Ball zurück, er gewinnt Zeit für seine Analyse der Situation, es fordert die Mädchen zu einer Reaktion auf und damit zu einem möglichen Hinweis, ob wir uns im Rot, Orange oder Grün-Bereich befinden.

Ziemlich komplex alles. Aber ich bin dankbar für das Vertrauen meines Sohnes. Manchmal ist es wie ein Spiel, er meldet dann, wenn er neue Erfahrungen gewonnen hat. Auch schon berichtete er stolz, er hätte eine spontane Idee gehabt, wie reagieren und hätte das grad ausprobiert. Er wird mutiger. Und sicherer. Er kombiniert Erfahrungen und nicht selten braucht er mich nur noch, um seine Reflektionen laut äussern zu können. Also zum Zuhören. Der Junge macht seinen Weg, ich bin sehr stolz. Und inzwischen weiss ich, dass es noch eine dritte Art gibt, das Rutschen zu lernen: Das Kind bei der Hand nehmen, ihm einmal zu zeigen, wie man Rutschbahn fährt und es dann alleine rutschen lassen.





Mutter mit Frust


Normalerweise bin ich ziemlich ausgeglichen und als ruhiger Pol im Familiengefüge bekannt. Mein Sohn (9) schätzt das. Aber lernt er so überhaupt, wie man mit zickigen, frustrierten oder ungeduldigen Menschen umgeht?

Kürzlich hab ich ihm ungewollt die Chance geboten, sich zu beweisen. Denn während andere bei der Steuererklärung, bei arroganten Mitmenschen oder unter starkem Druck zu Frust neigen, passiert mir das beim Backen. Das kann ich nicht. Das mag ich nicht. Dem geh ich aus dem Weg. Letztens ging es aber nicht anders. Ich war zu einem Dessertabend verabredet mit den Regeln, jede bringt ein Dessert. Ich dachte, ich schaffe das.

Aber wenige Minuten bevor ich das Haus verlassen musste war das – notabene im Internet unter "simpel" gekennzeichnete – Schokoladen-Dessert noch immer nicht fertig. Es sah scheußlich aus und ich versuchte zu retten, was zu retten ist. Leider mit überhasteten und wenig durchdachten Maßnahmen. Es endete im Desaster. Das unglücklich formulierte "ich hab s ja gleich gesagt" von meinem Mann gab mir den Rest und ich schnauzte völlig atypisch frustriert und genervt durch den Raum. Mein Sohn beobachtet das. 

Ich denke kurz an ihn. Schätze kurz das Risiko eines Overloads ab, sehe keine Gefahr und kümmere mich nicht weiter um sein Befinden. Ganz im Gegensatz zu ihm! Er steht auf und bewegt sich unmittelbar auf den brodelnden Krisenherd (mich) zu. Das verwundert mich. Und dann legt er tatsächlich seine Hand ganz fürsorglich auf meine Schultern und entscheidet sich, während er mir aufmunternd ins Gesicht schaut, für einen gut durchdachten Ratschlag:

"Du musst dir jetzt einfach eine dicke Haut zulegen. Im schlimmsten Fall wählst du eine Notlüge. Du könntest sagen, ich hätte das verschuldet. Das hast du doch auch schon einmal für mich gemacht." seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter.

Ich staune. Das Dessert bleibt zwar ein Desaster, nicht aber meine Stimmung. Die lockert sich deutlich. Mit der dicken Haut hat er Recht. Und ganz offensichtlich wendet er das, was ich ihm vorlebe und erkläre, sehr gekonnt an, wenn es darauf an kommt.